Nachdem das Ausmaß der Auswirkungen von COVID-19 deutlich wurde, kam das Krisenmanagement in Bewegung. Einerseits setzten die Unternehmen alles daran, das Wohlergehen ihrer Mitarbeiter und der Gesellschaft zu schützen. Gleichzeitig mussten sie um den Erhalt ihres Geschäfts bangen und haben sich daraufhin neu aufgestellt, die Kosten gesenkt und ihre Liquidität erhöht.
Die Anzeichen wurden jedoch zu spät erkannt und der Entschluss zu handeln zu spät gefällt. Eingefahrene Arbeitspraktiken, mangelnde Agilität und eine panikbedingte Schockstarre trugen ihren Teil bei. Inzwischen haben wir eine „fragile Stabilität“ erreicht und müssen uns nun zwei Fragen stellen:
- Wie können Unternehmen und Lieferketten wieder in Bewegung kommen?
- Wie können sie sich an diese unsichere „neue Normalität“ anpassen und trotzdem florieren?
Erfolg oder Misserfolg in der Zukunft wird weitaus entscheidender sein als das, was hinter uns liegt.
Teil 1:
Neu durchstarten
Unternehmen, die den Neustart nach COVID-19 sorgfältig planen und die Hürden voller Elan und Zuversicht angehen, werden diejenigen mit dem größten Wettbewerbsvorteil sein. Um das Modell der zukünftigen Einkaufsorganisation Ihres Unternehmens genau zu strukturieren, sollten Sie einige wichtige Parameter berücksichtigen.
Die komplexe Lieferkette
Einkauf und Supply Chain haben sich in den letzten 20 Jahren zu einem hocheffizienten Uhrwerk entwickelt. Die komplexen Verflechtungen und der Mangel an Flexibilität entwickelten sich während der COVID-19-Krise allerdings zum Nachteil:
- Lieferketten wurden vielschichtiger, dafür aber auch intransparenter
- Waren und Dienstleistungen legen weitere Strecken zurück, unterliegen dafür aber auch immer mehr geopolitischen Risiken
- Just-in-time-Management hat zugenommen, dafür wurden bestehende Puffer abgebaut
- Vertriebs- und Auftragsplanung (S&OP) ist heute höchst anspruchsvoll, dafür aber sehr schlecht auf unerwartete Ereignisse vorbereitet
- Lagerbestände sind stark integriert, was das Risikomanagement schwieriger gestaltet
- Arbeitsmodelle wurden flexibler, dafür stieg jedoch auch die Fluktuation
Unternehmen sollten sich darauf einstellen, Zeit und Energie in die kritische Neubewertung ihrer Lieferketten zu investieren, und sich dabei schwerpunktmäßig auf deren Belastbarkeit und Agilität konzentrieren. Zunächst muss jedoch die Supply Chain wieder in Gang gebracht werden und dafür braucht es eine abgestimmte Aktion.
Covid-19 Umfrage
Worin sehen Sie die Priorität des Einkaufs für die nächsten 6 bis 12 Monate?
- Sicherung der Lieferkette
- Förderung der Mitarbeiterkompetenzen im Umgang mit Unsicherheiten
- Realisierung von Kosteneinsparungen
- Erschließung und Unterstützung neuer Geschäftsfelder
- Anpassung an 'Remote Work'
Funktionsübergreifende Planung
Ihr Neustart erfordert die Zusammenarbeit und einen großen Kraftaufwand innerhalb der gesamten Lieferkette sowie im Unternehmen. Gute Arbeitsbeziehungen, eine offene Kommunikation und eine klare Preisgestaltung müssen vorteilhaft genutzt werden, damit alle Beteiligten synchron laufen.
- Die Vertriebsteams müssen enger als je zuvor mit den Kunden zusammenarbeiten, um Nachfrageprognosen zu erstellen und genaue Abnahmezusagen zu erhalten – und dies dann dem Einkauf mitteilen.
- Der Einkauf muss die Lieferantenlandschaft neu bewerten und wissen, wie er das Beste aus den Lieferanten herausholen kann. Gleichzeitig gilt es, die partnerschaftlichen Beziehungen zu pflegen.
- Die Lieferkette muss detaillierte neue Modelle für die Lagerhaltung, Beschaffungszeiten, Routen und LKW-Auslastung ausarbeiten sowie viele weitere Parameter überdenken.
- Die Marketing- und Kommunikationsteams müssen ein überzeugendes Narrativ entwickeln, dem sowohl die Kunden als auch die Lieferkette vertrauen und folgen können.
- Die Regierung als externer Akteur muss außerdem unmissverständlich signalisieren, wann, wo und wie sich die Märkte wieder öffnen werden.
Gezielte Aktivitäten – Nachfrage
Die Nachfrage vor COVID-19 ist möglicherweise nicht die gleiche Nachfrage wie danach. Ziehen Sie folgende Maßnahmen in Betracht:
- Nehmen Sie Ihre Kunden mit ins Boot und arbeiten Sie in Hinblick auf ihre Bedürfnisse und Prognosen eng mit ihnen zusammen; segmentieren Sie sie nach Branchen, um einen Nachfragezeitplan zu erhalten. Und nutzen Sie neue Prognosen, nicht die alten Materialbedarfspläne. Akzeptieren Sie, dass COVID-19 Ihre Ausgangslage verändert hat.
- Identifizieren Sie Ihre wichtigsten Kunden oder Branchen; wenn Sie schwierige Lieferentscheidungen treffen müssen – wem werden Sie den Vorzug geben und wie werden Sie mit denen kommunizieren, die nicht in die engere Wahl kommen?
- Lernen Sie aus der Krisenzeit; stellen Sie fest, welche Veränderungen vorübergehender und welche anhaltender Natur sind.
- Stellen Sie sich darauf ein, etwas anderes oder anders zu verkaufen; erkennen Sie, was das Unternehmen kurz-, mittel- und langfristig braucht, seien es Barmittel oder längerfristige Umsätze. Modellieren Sie Ihren Neustartvorschlag auf dieser Basis und bereiten Sie die Vertriebsteams vor.
Gezielte Aktivitäten – Angebot
Wie erhöhen Unternehmen die Wahrscheinlichkeit, die richtigen Waren und Dienstleistungen zum richtigen Zeitpunkt zu erhalten?
- Kollaborative Lieferantenprognosen; arbeiten Sie bei der Prognose des voraussichtlichen Bedarfs eng mit Ihren Lieferanten zusammen, um die Vorteile der Schwarmintelligenz zu nutzen. Legen Sie auf dieser Basis Ihre Bestellungen oder Optionen fest.
- Risikoteilung mit Lieferanten; seien Sie offen dafür, mit Lieferanten über Risikoteilung und Cashflow zu verhandeln.
- Lieferantendiversifizierung; nutzen Sie diese Gelegenheit, um weitere Lieferanten zu identifizieren und vorzuqualifizieren. Aktualisieren Sie Ihre Kosten- und Risikoprognosen, um Versorgungsquellen zu erschließen, die bislang als fraglich eingestuft wurden.
- Szenarioplanung; spielen Sie „Was-wäre-wenn“-Szenarien durch, um flexible Ansätze zu festigen und innerhalb der Teams eine Problemlösungsmentalität zu entwickeln.
Durch eine effektive Einkaufs- und Lieferkettenplanung kommen Unternehmen schneller und nachhaltiger wieder auf die Beine. Und mit etwas Glück wird dieser Elan zu langfristigem Wachstum, Erfolg und Resilienz in der „neuen Normalität“ führen, die wir in unserem 2. Teil untersuchen.
Teil 2:
Aufbau von Lieferketten für das neue Normal
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Viele sehnen sich danach, dass alles wieder so wird, wie es immer schon war. Aber COVID-19 wird bestimmte Aspekte der Arbeit nachhaltig verändern. Die Folge sind beschleunigte Umsetzung unvermeidlicher Neuerungen oder die Entdeckung unvorhergesehener Optionen.
Auch wird mit steigender Komplexität der Unterschied zwischen effektiven und ineffektiven Einkaufsteams in Zukunft viel größer sein als heute.
Vier Stufen zur Optimierung von Einkauf und Lieferketten:
1. Verstehen
Einkaufsorganisationen, die schon in der Vergangenheit ihr Geschäft bestens kannten, sind während der aktuellen Verwerfungen aufgrund von COVID-19 klar im Vorteil. Die folgenden Maßnahmen haben sich während der COVID-19-Krise bewährt und werden dies auch in Zukunft tun:
- Die Zusammenarbeit mit Geschäftspartnern ist besonders wertvoll für den Einkauf. Sie erzeugt ein größeres Verständnis dafür, was Kunden schätzen, wie die Produkte eingesetzt werden und welche finanziellen Belastungen auf den einzelnen Einheiten lasten; damit sind die Teams in der Lage, schneller umsetzbare, detaillierte Anfragen an die Lieferanten zu richten.
- Die Ausgabenanalyse schafft Transparenz über die Tier-1-Lieferkette, offene Verpflichtungen sowie Zahlungsprofile und erleichtert die Selektierung der Lieferanten.
- Das Supplier Onboarding und das Lieferantenmanagement erzeugen Finanzdaten und Tier-2/3-Sichtbarkeit. Weiterhin wird sichergestellt, dass Kontaktdaten verfügbar sind, damit sich ein zentrales Team bei Bedarf in Verbindung setzen kann.
- Die Analyse der Gesamtbetriebskosten (Total Cost of Ownership) und der Sollkosten (Should Costing) ermöglicht eine reale Sicht auf die zugrunde liegenden Kostentreiber, sodass Fragen schneller und gezielter gestellt werden können.
- Absatz- und Vertriebsplanungsorganisationen, die bereits früh Anzeichen für Nachfrageverschiebungen und Angebotsschocks weitergeben, können intern und mit den Lieferanten offener über Abhilfemaßnahmen sprechen.
2. Aufbauen
In einer Krise zeigt sich die wahre Natur eines Teams. Effektive Einkaufsteams verfügen über ein hohes Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem Unternehmen und eine Kultur der kollegialen Unterstützung in schwierigen Zeiten. Unternehmen können dies folgendermaßen fördern:
- Geben Sie eine klare Zielsetzung, die unternehmensweit kommuniziert wird und dem Ansatz von schrittweisen Änderungen und der Einrichtung von ‚Control Towers‘ folgt.
- Fördern Sie Soft Skills, insbesondere in Hinblick auf den Dialog mit Stakeholdern und die Mitarbeiterführung, um eine offene Innovationskultur für kreative Lösungen zu schaffen.
- Delegieren Sie mehr Verantwortung und erlauben Sie es, Problemlösungen von unten nach oben zu finden. So kann das Team schnell neue Ansätze ausprobieren und herausfinden, was gut funktioniert, um es anschließend im gesamten Unternehmen auszurollen.
- Fördern Sie technische Kompetenzen wie Vertrags- und Datenanalyse oder Supply Chain Mapping.
3. Selektives Lieferketten-Neudesign
Die Lieferketten sind im Laufe der Jahre stark optimiert worden, um Kosten zu minimieren. Dafür wurden Bestände rationalisiert und mehrstufige Supply Chains eingerichtet. Unternehmen sollten nun jedoch maßvoll reagieren und ihre Lieferketten selektiv anpassen, um in zukünftigen Krisen reaktionsfähig zu bleiben.
- Ermitteln Sie die Widerstandsfähigkeit Ihrer Lieferkette: wie geschäftskritisch sind einzelne Elemente, wie unkompliziert sind Wechsel möglich und wie belastbar sind Ihre bestehenden Lieferanten. Ziehen Sie auch untergeordnete Zulieferer in Ihre Überlegungen ein, insbesondere bei Baugruppen oder schwer zu ersetzenden Komponenten wie Speicherchips oder Modulsystemen.
- Bauen Sie Überschüsse für kritische Warengruppen auf, in denen der Aufwand für einen Wechsel zu hoch ist und die Teile geschäftskritisch sind. Eine diversifizierte Supply Chain für kritische Teilefamilien erlaubt es, auch in einer Krise die Kontrolle zu behalten, ist aber meist kostspielig – und sollte deshalb gezielt dort eingesetzt werden, wo eine hohe Widerstandsfähigkeit am meisten gefordert ist.
- Selektive De-Globalisierung oder Insourcing ist ein aktueller Trend, der auf eine verringerte Kostendifferenz und anhaltende Handelsstörungen zurückzuführen ist. Dadurch werden die Lieferketten verkürzt, Beschaffungszeiten reduziert und eine doppelte Versorgung zur Unterstützung der Agilität gesichert.
4. Beobachten
Es ist von entscheidender Bedeutung, die Risikoquelle gezielt ins Visier zu nehmen. Das bedeutet für Unternehmen, stets wachsam zu bleiben, um zu wissen, welche Vorkehrungen sie treffen müssen und wie sie in einer Krise Probleme schnell erkennen können. Folgende Bereiche haben wesentlichen Einfluss auf die Agilität:
- Risiken für das gesamte Unternehmen – Spielen Sie eine Konfliktsituation durch oder besprechen Sie diese Szenarien während der Warengruppenplanung, um Ihre Reaktionsbereitschaft entscheidend zu verbessern.
- Ergebnisse, sowohl kurzfristig als auch mittelfristig. Ein gemeinsames Ziel kommuniziert dem Team, welcher Zweck verfolgt wird und welche Maßnahmen Vorrang haben. Auch unerwartete Kurskorrekturen lassen sich so vermitteln.
- Maßnahmen während der Krise zur Vorhersage von Ergebnissen und zur Überwachung der Arbeitsbelastung. Eine solche Berichterstattung ist in einer Krise schwer aufzubauen, also machen Sie sich jetzt an die Arbeit, um künftig gut vorbereitet zu sein.
Lieferantenindikatoren, insbesondere aktuelle und aussagekräftige Informationen, ermöglichen gezielte
Entscheidungen im Krisenfall.
Mit vollen Segeln aus der Krise
Ein proaktives Management dieser neuen Normalität mit dem Fokus auf Soft Skills, guten Geschäftsbeziehungen und besseren Daten verbessert die Wahrnehmung des Einkaufs – so kann zwischen Krisen mehr Wert geschaffen und beim Eintreffen von Krisen schnell reagiert werden.
Mit dem richtigen Plan, Engagement und Optimismus helfen gute Einkaufs- und Supply-Chain-Teams den Unternehmen, sich zu erholen und zu gedeihen – nicht nur jetzt, sondern langfristig.
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